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Die armen kleinen Gehirne
Was Kinder in der DDR so alles erdulden mußten, will Jana Hensel wissen / Von Peter Richter

Das "Buch einer Generation", das Jana Hensel geschrieben hat, ist vor allem die Geschichte einer atmosphärischen Beruhigung: Am Anfang ist Mistwetter, ist Montag abend in Leipzig, ist ein Mädchen im Anorak, das an der Hand seiner Mutter zur Demonstration geht. Es wird dreizehn in diesem Jahr, als die Mauer fällt. Und in den darauf folgenden, bekanntlich sehr stürmischen Jahren wird es erwachsen. Nach weiteren dreizehn Jahren ist dann endlich alles gut, ist Berlin, der Duft von Frühling und eine zufriedene junge Frau, die sich zu den "ersten Wessis aus Ostdeutschland" zählt. Sie schiebt "Go West" von den Pet Shop Boys ins Autoradio und fährt schließlich in der nämlichen Richtung hinaus aus dem Buch, das sie geschrieben hat, weil ihre "paar Jahre vor dem Fall der Mauer" von nun an "zahlenmäßig in die Minderheit geraten und die DDR für uns, als schauten wir in den Rückspiegel eines Autos, noch ferner, kleiner und immer märchenhafter werden" wird.

Aus der Perspektive des Rückspiegels versucht sie nun eine Sprache zu finden für den Weg, den sie zurückgelegt hat, für die Erinnerungen, die sie bei voller Fahrt unter den Reifen zerstäubt hat, und die erst einmal rekonstruiert werden müssen. Leider erfährt man nicht, um was für ein Auto es sich handelt, mit dem sie da endlich in die Zielgerade ihrer Entwicklung einbiegt. Wenn sie so fährt, wie sie schreibt, läßt das vielleicht auf einen putzigen Mini schließen. Jedenfalls kommt das Buch selbst als launiges Retro-Mißverständnis daher, in Packpapier gewickelt, so wie man sich im Westen womöglich schmunzelnd ein DDR-Buch vorstellt.

Da beschwört jemand etwas, das er am liebsten vergessen will: "Vielleicht werde ich diese ersten, unsicheren und häßlichen Jahre kurzerhand aus unserem Leben streichen. Die Beweisfotos der Lehrjahre würde ich jedenfalls schon jetzt gern vernichten". Da werden ganze Jahrgänge von Individuen zum passiven Formfleisch der wechselnden Verhältnisse gemacht und damit zum späten Stolz ihrer marxistischen Lehrer. Ausgerechnet da, wo sie überwunden, abgewaschen, vergessen werden will, triumphiert die DDR, kommt die Flucht- und Nischengesellschaft doch noch "Vom Ich zum Wir".

So schnell hat noch kein Hippie seinem Gegenüber das Du aufgedrängt, wie dieses Buch dem Leser das Wir. Wie zur Korrektur der umstrittenen Thesen, die der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer vor einigen Jahren über die Gewalttätigkeit des Ostens aufgestellt hat, werden "wir" alle noch einmal kollektiv auf den Nachttopf gesetzt, werden aber nicht aggressiv, sondern sehr friedlich. Es ist der Pluralis majestatis roher Krankenschwestern, und die Injektion besteht aus einer großen Dosis Sedativum: Statt Abenteuergeschichten aus dem wilden Osten birgt das Buch vor allem tiefe Sehnsucht nach Müdigkeit und Beständigkeit, viel Spannungs-, Relevanz- und Veränderungs-Ennui: "Wenn mir heute Freunde aus Heidelberg oder Krefeld sagen, sie hätten lange gebraucht, sich daran zu gewöhnen, daß Raider nicht mehr Raider, sondern irgendwann Twix hieß, und wie sehr sie es liebten, in den Ferien für ein paar Tage nach Hause zu fahren, weil man es da zwar nicht lange aushalte, aber alles noch so schön wie früher und an seinem Platz sei, dann beneide ich sie ein bißchen." Beschrieben wird ein Blick zurück im Ekel, der eines Rekonvaleszenten auf seine Krankheitsgeschichte. Eine Emanzipation von der eigenen Herkunft bis hinein in die Terminologie, bis in die Zeitangaben, die "samstags" und "viertel nach fünf" eher auf das Einverständnis von West- als von Ostdeutschen hoffen.

Ostdeutsche, das sind Verlierer: "Jürgen Sparwasser war eine Lüge" ist der mit Abstand hübscheste Satz des Buches. Franziska van Almsick hingegen ist eine Gewinnerin, sie führt die Generation der Zonenkinder in den Erfolg und in den Westen: Da wo es vorher nur Leitbilder gab, die verlacht wurden, müssen jetzt role models her. In seinen wesentlichen Teilen handelt das Buch von der Pein der frühen Bilder: wie es kam, daß man sich selbst genauso peinlich war wie den westdeutschen Brüdern und Schwestern. Und es handelt davon, wie man das aus der Norm gerückte Selbstbild schließlich wieder einrenkte, indem man es mühsam neu justierte.

In seinen interessantesten Passagen streift es über das spannende Thema von Norm-, Geschmacks-, und Stilbildung: Auf alten Fotos findet sich die Erzählerin verschreckt und "immer unpassend angezogen". Und es braucht Jahre, passend zu machen, was da alles nicht paßt. Wenn westdeutsche Kommilitonen "gedünsteten Fenchel in sahniger Soße, Vollkornbrot und französischen Rotwein" auftischen, prägt sie sich das fremde Gemüse für eigene Einkäufe gut ein. Junge Westdeutsche kommen nach Leipzig und legen in ihrem "kahlen, spartanischen Zimmer" den Stuck frei, der "nach Patina" aussehen muß, während DDR-Wohnungen immer "restlos vollgestellt" waren. Der Westdeutsche findet Außenklos und dicke Milchverkäuferinnen "authenthisch". Er kauft naturbelassenes Obst, die Ostdeutsche Cola in der Dose. Und beide sind verstört.

Die In-und-out-Listen, die da gelernt werden müssen, sind endlos. Und die Erfolge, die sich allmählich einstellen, bringen vor allem eine in der Tat gut beobachtete, beklemmende Entfremdung von den eigenen Eltern: Auf alten Fotos waren sie modisch noch auf der Höhe der Zeit, jetzt sind sie für luxuriöse Geschenke unempfänglich, bleiben lieber pragmatisch und bevorzugen Runtergesetztes aus "hochglänzenden Servicetempeln", die nicht nur "grüne Wiesen", sondern auch alle Kindheitserinnerungen an die Städte überwuchern.

Es wäre nun vielleicht wissenswert, wann diese modische Phasenverschiebung eingesetzt hat. Und warum. Ob diesem störrischen Pragmatismus und diesen gigantischen Service-Landschaften nicht womöglich auch Fingerzeige für die Zukunft des gesamten Landes zu entnehmen wären. Ob die seltsam reziproken Bilder, die sich West und Ost da voneinander machten, nicht sogar auf ein ganzes, bis ins Heute reichendes Gewirr von projektiven Mißverständnissen schließen ließen. Den vielen angetippten Phänomenen und aufgeworfenen Fragen wirklich nachzugehen bleibt dann allerdings keine Zeit, weil das Buch, die Geschichte, die Entwicklung eilig weiterwill.

Und zwar in einem Vereinigungsrausch, der seltsam wörtlich und wie ein Kalauer daherkommt. Die älteren Landsleute - und mit der Strenge eines chinesischen Jahrgangshoroskops heißt das: ausnahmslos alle älteren Ostdeutschen - seien zu konservativ und zu verbohrt für den persönlichen Vollzug der Einheit, während Jana Hensel und die Ihren auf fast jeder Seite fast jedem Westdeutschen mit dem Wort "verlieben" gegenübertreten. Ist es am Ende also sogar eine Popliteratur-Parodie?

"Wir wollen immer artig sein", "Ich such' die DDR, und keiner weiß, wo sie ist" sowie "Ata, Fit, Spee, RFT, Boxerjeans, auf die ich steh'" - diese zentralen Themenbereiche sprächen für eine entsprechende Haltung zu den Dingen. Daß sie sich mit drei Punksongs aus den Wendejahren schon relativ bündig zusammenfassen lassen, spricht hingegen nicht für allzuviel gedankliche Frische. Zudem kann man die altkluge Sprache, den ungelenken Duktus beim besten Willen nicht amüsant nennen - und das deutet wiederum auf die schreckliche Wahrheit hin: daß es sich um den hektisch zusammengeschriebenen Anführer der Sachbuchliste eines Verlages handelt, der rechtzeitig zur DDR-Erinnerungswelle auf dem Markt sein wollte. Was als subjektive Prosa noch durchgehen könnte, ist als Sachbuch mit dem Anspruch, Licht auf eine durch ein gemeinsames Schlüsselerlebnis tatsächlich definierbare Generation zu werfen, eine inhaltliche Fehlleistung. Jana Hensel hat ein Buch über sich selbst geschrieben, das "Zonenkinder" heißt und jetzt den Platz versperrt für das Sachbuch, das zu diesem Thema, wenn man es ernst nimmt, dringend noch geschrieben werden müßte.

Jana Hensel: "Zonenkinder". Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002. 172 S., Abb., geb., 14,90 [Euro].

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